Bislang wurden grob geschätzt rund 10 000 Aromastoffe in Lebensmitteln und Getränken identifiziert. Nach Substanzgruppen betrachtet sind die Ester-Verbindungen die größte Aromagruppe. Direkt danach kommen die schwefelhaltigen Aromastoffe, die unter der Fachbezeichnung “Thiole” zusammengefasst werden. Der Begriff leitet sich aus dem griechischen Begriff „theion“ ab, der für Schwefel steht. Thiole sind kleine Schwefelaromastoffe, die dank ihrer hohen Reaktivität durch Oxidation, Isomerisierung oder Neuanordnung einem ständigen Wandel unterworfen sind. Sie können als funktionelle Gruppen Alkohole, Aldehyde oder Ester enthalten. Thiole kommen in zahlreichen Lebensmitteln und Getränken vor, u.a. in Wein, Kaffee, Käse, Olivenöl, Früchten und Gemüsen.
Dass Thiole im Hopfen und Bier wichtig sind, wissen wir nun seit fast 20 Jahren, seitdem das erste Thiol in der amerikanischen Hopfensorte Cascade identifiziert wurde. In ihrer freien Form finden wir sie seitdem in allen neuen Zuchtsorten, die nicht nur zitrusartige Fruchtaromen aufweisen (die ja teilweise auch in Landsorten vorkommen) sondern vor allem verschiedene süße oder tropischen Fruchtaromen besitzen. In gehopften Bieren konnten bisher über 40 verschiedene Thiole identifiziert werden, doch nur ein Teil von ihnen besitzt eine fruchtig-tropische Ausprägung. Viele dieser Schwefelverbindungen im Bier werden mit gegrillt, nussig, plastikartig, schweißig, dieselartig oder mit Lichtgeschmack oder Katzenurin beschrieben. Besonders spannend machen es uns die Thiole, weil die Aromaqualität derselben Verbindung je nach Konzentration und Sensibilität des Riechers mit einer ganzen Bandbreite unterschiedlicher Deskriptoren bezeichnet werden kann. 4MMP (4-Mercapto-Methyl-Pentan-2-on) wird beispielsweise mit Buchsbaum, Maracuja, Schwarze Johannisbeere, Katzenurin und Schweiß je nach Konzentration und Empfindlichkeit beschrieben. Thiole zu analysieren ist an sich schon schwierig, Thiole in Hopfen oder Bier zu analysieren ist besonders anspruchsvoll. Daher sind Analysen nur in ausgesuchten Laboren machbar und meistens auch sehr kostspielig. Es handelt sich also keinesfalls um eine alltagstaugliche Routineanalytik, die Brauereien leicht etablieren könnten.
In den vergangenen Jahren wurde deutlich, dass wir zwar freie Thiole in fast allen neuen Zuchtsorten finden, die durch fruchtige Aromen auffallen, dass es aber in jeder (!) Hopfensorte Vorläuferstrukturen in hohen Konzentrationen gibt, in denen Thiole gebunden sind - beispielsweise in Form von Cystein oder Glutathion, einem Tripeptid. Daher fragen Brauerinnen und Brauer zurecht, wie sie die gebundenen Thiole im Brauprozess freisetzen können, um mehr Fruchtaromen ins Bier zu bekommen.
Damit Thiole im Bier fruchtig wirken braucht man nur wenige ng/L. In sehr hopfenintensiven Bieren kann man bis 300 ng/L nachweisen. Die Konzentration von freien Thiolen in Hopfensorten geht bis etwa 100 µg/kg, die Konzentration an Vorläuferstrukturen hingegen bis über 30 000 µg/kg. Das Potential scheint daher riesig. Jedoch sind die größten Mengen an Vorläufersubstanzen um das 3 MH (3-Mercapto-Hexan-1-ol) gebunden, ein Thiol, das als Einzelsubstanz eher in Richtung Grapefruit geht und im Vergleich zu 4 MMP aromatisch weniger Vielfalt zu bieten hat. Die Konzentration an Vorläuferstrukturen um das 4MMP ist leider viel geringer und oft nicht nachweisbar.
Ein theoretischer Weg, welche Enzyme es aus der Hefe bedarf, um die Thiole freizusetzten, wurde vor einigen Jahren von einem belgischen Forscherteam erarbeitet: Das Glutathion wird erst enzymatisch in Cystein abgebaut, und aus dem Cystein werden die Thiole durch die Aktivität der Beta-Lyase freigesetzt. Versuchsfermentationen zeigten jedoch eine sehr geringe Freisetzung im Vergleich zur Weingärung. Viele Hefevermarkter haben sich seither die Eigenschaften ihrer Hefen bezüglich der Beta-Lyase-Aktivität genau angeschaut, so dass wir heute von vielen Hefestämmen wissen, ob sie Thiole freisetzen können. Im gleichen Atemzug wurden aber auch neue Hefestämme mittels CRIPSPR CAS Methode neu gezüchtet, bei denen mit den verantwortlichen Genen zur Thiol-Freisetzung stark exprimiert wurde. Diese GMO-Hefen sind in den USA zulässig und machen einen guten Job. Mitunter entstehen dadurch aber sehr starke Fruchtaromen, die mit dem eingesetzten Hopfen nicht mehr sensorisch assoziiert werden.
Die Vorläuferstrukturen der Thiole finden sich auch in Hopfentreberpellets wieder, das sind Hopfenpartikel, die nach der Extraktion des Hopfens übrigbleiben und zu Pellets gepresst werden. In eigenen Versuchen konnte das BarthHaas Brewing Solutions Team zeigen, dass man damit sowohl mit einer klassischen Ale-Hefe als auch mit einer Thiol-Hefe intensive Fruchtaromen durch Kalthopfung während der Gärung erreichen kann. Wobei die Biere, die mit der Thiol-Hefe gebraut wurden im Vergleich zur klassischen Ale-Hefe und je nach Treberpelletmenge eine größere Bandbreite an Aromen hervorbringen. Wir konnten auch zeigen, dass die Konzentration an freien Thiolen durch Maischehopfung leicht gesteigert wird.
Ein wichtiges Thema, das im Zusammenhang mit Thiolen gerne unter den Tisch fällt, ist die Interaktion von Aromastoffen. Jedes Lebensmittel und Getränk enthält mehrere hundert, wenn nicht tausend verschiedene Aromastoffe. Im Bier sind das originäre Aromastoffe der Rohstoffe sowie Aromastoffe, die durch den Brauprozess entstehen. Jeder Aromastoff hat einen Schwellenwert, das ist die Konzentration bei der man den Aromastoff (in Wasser oder einem anderen Medium) erkennen kann. Dieser Schwellenwert wird durch die Anwesenheit eines zweiten Aromastoffes obsolet! Binäre Mischungen können einen wesentlich höheren Schwellenwert aufweisen oder auch einen wesentlich geringeren. Das bedeutet, dass Aromastoffe miteinander maskierend, synergistisch, additiv oder subtraktiv wirken können. Zu diesem Thema gibt es leider nicht viele Arbeiten. Aber es ist klar, dass diese Aromainterkationen stark ausgeprägt sind und dass Thiole synergistisch mit Monoterpenalkoholen (wie Linalool oder Geraniol) wirken. Man braucht nicht lange nachzudenken, um zu erkennen, wie komplex dieses Thema ist und wie unmöglich es ist, das genaue Zusammenwirken von tausenden verschiedenen Aromastoffen im Bier zu untersuchen.
Es stehen Brauern also viele Werkzeuge zur Verfügung, um die fruchtigen Aromen aus dem Hopfen mittels Prozessparameter und Hefe herauszukitzeln. Hier haben die letzten Jahre sehr viele bahnbrechende Erkenntnisse gebracht. Jedoch sind Thiole auch im fertigen Bier besonders fragil, und man muss sich fragen, wieviel Aufwand für tolle Aromen sinnvoll ist, wenn diese bereits nach wenigen Wochen verschwinden und der Konsument nur noch einen Bruchteil davon genießen kann.